Die Belagerung von Helsingborg

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Bei dem Text »Die Belagerung von Helsingborg« handelt es sich um ein Kapitel aus dem Rohmanuskript meines Romans »Im Zeichen des Löwen«, das nicht im Buch enthalten ist. Aus verschiedenen Gründen hatte ich entschieden, die Passage zu entfernen, bevor das Buch in Druck ging. Auf dieser Webseite möchte ich euch das gelöschte Kapitel zur Verfügung stellen. Ein Satz zur Orientierung: Der Text befand sich im Dritten Buch des Romans, zwischen Kapitel 14 und 15 bzw. zwischen Seite 622 und 623 der gedruckten Fassung.

Viel Spaß beim Lesen!

Die Belagerung von Helsingborg

Helsingborg in Schweden
Anno Domini 1362

Der Pfeffersack, der den König herausforderte: Du wirst verlieren, hatten sie gedacht, die Waffenknechte, die Bogenschützen, die Ritter auf ihren Schlachtrössern. Er hatte es in ihren Blicken gelesen, hatte die Furcht in ihren Gesichtern gesehen. Niemand hatte ihm zugetraut, diese Streitmacht zum Sieg zu führen, nicht einmal die hohen Herren in den Ratssälen der Hanse. Man hatte ihm das Kommando übertragen, weil es keinen anderen gab, der sich dieser schweren Aufgabe stellen wollte.

Doch er, Johann Wittenborg, Pfeffersack und stolz darauf, hatte sie eines Besseren belehrt.

Unter seinem Befehl war die Kriegsflotte nach Nordosten gesegelt, hatte die dänischen Schiffe vor Kopenhagen gestellt. Waldemar Atterdag, überrascht von der entschlossenen Gegenwehr der Hanse, war geflohen. Der mächtige Dänenkönig hatte Reißaus genommen, als er die Segel der Deutschen am Horizont erblickte! Kopenhagen war daraufhin schutzlos gewesen. Johann und die Seinen hatten die Handelsstadt nach kurzem Kampf genommen; Herzog Christoph, Waldemars Sohn, war bei dem Angriff getötet worden. Sie hatten reiche Beute gemacht, als sie die Kontore der dänischen Kaufleute plünderten.

Ein glorreicher Sieg für die Hanse und ein schwerer Schlag für den Feind.

Johann aber hatte sich nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Sein Ziel war es, die Kontrolle über den Öresund zurückzuerlangen, jene Meerenge zwischen Schonen und Sjælland, die überaus bedeutsam war für den Handel auf dem Baltischen Meer. Also hatte er die Flotte durch den Sund geführt, zur Festung Helsingborg, die die schmale Durchfahrt zum Kattegat beherrschte. Hier hatte der Zwist mit Waldemar seinen Anfang genommen: Atterdag hatte das Bollwerk an der schwedischen Küste vor anderthalb Jahren in seinen Besitz gebracht und forderte seitdem von den durchreisenden Schiffen unverschämte Zölle.

Johann und seine Streiter waren an der sandigen Küste gelandet, 2740 Kriegsmannen, ein beeindruckendes Heer, ausgestattet mit Pferden, Zelten und genug Proviant für einen langen Feldzug. Sie hatten einen engen Ring um die Festung gelegt, dem niemand entkam, und sechzehn Kriegsmaschinen in Stellung gebracht.

Seit zwölf Wochen nun schossen Katapulte und Bombarden ohne Unterlass auf Helsingborgs Mauern.

Die Wurfmaschinen und Geschütze richteten kaum etwas aus. Die Steinkugeln prallten einfach vom massiven Ringwall der Festung ab. Auch der Kaernan, der mächtige Turm im Zentrum der Anlage, widerstand den Geschossen beharrlich. Die Euphorie nach dem Sieg in Kopenhagen war Ernüchterung gewichen.

Beflügelt von seinem anfänglichen Erfolg hatte Johann sich der Hoffnung auf einen schnellen Sieg hingegeben. Allmählich gestand er sich ein, dass dieser Krieg ein zähes, ein mühseliges Geschäft werden würde.

Es war ein lauer Abend im Juni. Die Sonne stand tief über Sjælland; die Zelte warfen lange Schatten, die hier und da von aufflammenden Kochfeuern durchbrochen wurden. Johann schritt durch das Heerlager, zwei schwer gerüstete Männer seiner Leibgarde begleiteten ihn zur vordersten Linie des Belagerungsrings. Gelegentlich schwirrte ein feindlicher Pfeil heran. Johann blieb daher stets im Schutz der versetzt aufgestellten Sturmwände, hinter denen sich seine Bogenschützen verbargen und auf die Verteidiger Helsingborgs schossen.

Er verharrte hinter einem Schutzschirm, der keine dreißig Klafter vor der geschlossenen Zugbrücke stand.

»Vorsichtig jetzt«, raunte einer der Leibwächter. »Wenn die Dänen Euch entdecken, werden sie alles daran setzen, Euch zu töten.«

Johann spähte durch eine Ritze im Weidengeflecht. Vierzehn Türme umgaben den Kaernan, der in den dunkelblauen Abendhimmel stach wie ein zornig gereckter Arm. Freilich der Arm eines Giganten. Siebzig Ellen hoch war der Burgfried und auf seine Weise ebenso imposant wie Sankt Marien zu Lübeck.

Der Bürgermeister zuckte kaum merklich zusammen, als ein Knall an seine Ohren drang. Eine Bombarde, die unweit von ihm hinter einem hastig aufgeschütteten Erdwall stand, feuerte mit unerträglichem Getöse. Aus dem Bronzemaul schoss ein gleißender Blitz. Der Rückstoß erschütterte das Geschütz und warf das klobige Rohr von der Lafette. Die Kanoniere sprangen hastig zur Seite und verschwanden im wabernden Qualm. Johann hatte einen Heidenrespekt vor Feuerwaffen. Erst im vergangenen Jahr war im Keller des Rathauses ein Fass mit Schwarzpulver explodiert. Es hatte Tote gegeben, bei dem Unfall war außerdem ein Teil des Gebäudes zerstört worden. Er bereute längst, dass er dem Drängen seiner Hauptleute nachgegeben und zwei Bombarden mitgenommen hatte. Die gefährlichen Waffen waren nicht viel effektiver als herkömmliche Katapulte. Auch dieser Schuss richtete keinen Schaden an: Die Kugel zerplatzte wirkungslos an der Westmauer des Kaernan.

Die Bogenschützen waren da schon erfolgreicher. Eben beging ein Däne den Fehler, auf dem Wehrgang den Kopf nicht weit genug einzuziehen, als er die Lücke zwischen zwei Zinnen passierte. Ein Pfeil sirrte heran und fand eine ungeschützte Stelle am Hals. Der Getroffene taumelte; Blut quoll ihm aus dem Mund, bevor er umkippte. Mehrere Bogenschützen jubelten.

Ein glanzvoller Schuss, dachte Johann. Doch wie viele dieser Art müssen gelingen, bis Helsingborg fällt?

Niemand konnte sagen, wie viele Verteidiger sich in der Burg verschanzten. Eine solch große und wichtige Festung verfügte in Kriegszeiten gewiss über eine Besatzung von mehreren hundert Kämpfern, die unter dem Befehl eines erfahrenen Kommandanten standen. Und sie konnten lange ausharren. Johann wusste, dass Helsingborg über einen eigenen Brunnen verfügte, und im Kaernan lagerten vermutlich Vorräte für Monate. Er musste sich etwas einfallen lassen.

Er studierte die Mauern und suchte nach einer Schwachstelle, die er bisher übersehen hatte. Vergeblich. Dies war womöglich die stärkste Festung des Baltischen Meeres. Sogar die Zugbrücke war derart stabil, dass sie Kanonenbeschuss trotzte.

Als er gerade zum Heerlager zurückkehren wollte, näherte sich ihm ein Mann. Es war sein Partner Brun Warendorp, der eine Söldnertruppe anführte. Wie Johann trug er einen Harnisch und einen Helm, den er mit der rechten Hand festhielt, während er geduckt von Sturmwand zu Sturmwand lief. Die Verteidiger hatten ihn erblickt und schossen mit Armbrüsten auf ihn, doch die Bolzen verfehlten ihn entweder weit oder blieben in den Schutzschirmen stecken.

»Was treibst du hier draußen?«, fragte Brun schwer atmend. »Du hast Leute, die das für dich tun können.«

»Damit es wieder heißt: Der Krämer versteckt sich im Zelt, während andere den Kopf für ihn hinhalten?« Johann lächelte freudlos. »Nein, alter Freund. Wenn ich will, dass man mir folgt, darf ich die Gefahr nicht scheuen.«

»Gibt es etwas Neues?« Auch Brun blickte durch die Spalte im Weidengeflecht.

»Nichts. Türme und Mauern sind zu stabil für unsere Kriegsmaschinen. Ebenso gut könnten wir den Kaernan mit faulen Eiern bewerfen.« Johann schaute den Freund an. »Es tut gut, dich zu sehen. Bringst du Nachricht von unseren Verbündeten?«

Brun war vor zwei Wochen aufgebrochen, um herauszufinden, wo die zugesagte Unterstützung blieb. »Ja … aber sie wird dir nicht gefallen.«

»Heraus damit.«

»Schweden und Norweger werden nicht kommen.«

»Diese verdammten Feiglinge«, knurrte Johann. »Haben die Herren Könige wenigstens den Anstand, zu erklären, warum sie uns im Stich lassen?«

»Alles, was ich zu hören bekam, waren Ausflüchte und feige Lügen. Sie fürchten Waldemar und wollen sich seinen Zorn nicht zuziehen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Dabei hatten die Könige von Schweden und Norwegen auf der Zusammenkunft in Greifswald gelobt, der Hanse Schiffe und Kriegsvolk zu senden. »Was ist mit dem Deutschen Orden?«, fragte Johann.

»Der schickt immerhin Geld.«

»Ich brauche kein Geld!«, brauste der Bürgermeister von Lübeck auf. »Ich brauche schwere Katapulte und Männer, die sie bedienen können!«

»Vom Deutschen Orden wirst du beides nicht bekommen«, erklärte Brun bedrückt. »Ich fürchte, wir sind auf uns gestellt.«

Johann ballte die Faust um den bernsteinbesetzten Knauf seines Schwertes, dass sich die Kanten schmerzhaft ins Fleisch gruben. »Eine Spur von Waldemar?«

»Er ist verschwunden, als hätte das Meer ihn verschlungen. Wahrscheinlich versteckt sich seine Flotte irgendwo in einer der tausend Buchten des Kattegat.«

Es war Johann ein Rätsel, warum Waldemar den eingeschlossenen Verteidigern von Helsingborg nicht zu Hilfe eilte. Welche Strategie verfolgte der Dänenkönig? »Gehen wir zurück.«

Sie blieben stets in Deckung und gelangten unbeschadet zum Lager. Während er zwischen den Zelten und Herdstellen entlangschritt, spürte Johann, wie ihm die Blicke der Männer folgten – Blicke voller Zweifel. Mit Entschlossenheit und ja, mit Glück war es ihm gelungen, sich den Ruf eines fähigen Feldherrn zu erarbeiten. Doch mit jedem weiteren Tag, den sie vor Helsingborg lagen und sich an der Festung die Zähne ausbissen, schwand das Zutrauen der Soldaten in seine Fähigkeiten. Nicht mehr lange, und der Kampfgeist der hansischen Streitmacht wäre dahin.

Mit Brun und den anderen Hauptleuten setzte er sich in seinem Zelt zusammen. Man erörterte die vertrackte Lage. Pläne wurden geschmiedet und wieder verworfen. Niemand wusste Rat.

Es war eine unruhige Nacht für Johann Wittenborg.

***

»Wir stürmen«, entschied er am nächsten Tag.

Scheußliche Nachtmahre hatten ihn geplagt, in einem Traum hatte er Glassplitter gekaut. Im Morgengrauen war Johann schweißgebadet aufgewacht. Nun fühlte er sich müde und zerschlagen – und dennoch entschlossen, dieser fruchtlosen Belagerung rasch ein Ende zu machen.

»Bei allem Respekt, Herr Wittenborg«, sagte einer der Hauptleute, die sich abermals in seinem Zelt eingefunden hatten. »Ich glaube nicht, dass wir Helsingborg einnehmen können, ehe wir nicht eine Bresche in den Wall geschossen haben. Die Mauern sind zu hoch, die Verteidiger zu zahlreich für einen Sturmangriff.«

»Wenn wir jeden verfügbaren Mann in die Schlacht werfen, kann es gelingen«, widersprach Johann.

»Es wäre klug, eine Reserve zurückzuhalten«, gab Brun zu bedenken.

»Nein. Wir müssen entschlossen zuschlagen und die Entscheidung erzwingen. Mit allem, was wir haben. Auch die Seeleute müssen kämpfen.«

Ein Hauptmann sog scharf die Luft ein. »Ich rate dringend davon ab, die Schiffe ohne jede Bewachung im Hafen zurückzulassen.«

»Na schön. Vierzig Mann sollen bei den Schiffen bleiben. Alle anderen machen sich bereit zum Angriff. Wenn die Sonne am höchsten steht, schlagen wir los.«

Niemand widersprach. Doch Johann spürte, dass er soeben eine einsame Entscheidung getroffen hatte.

***

Johann riss das Schwert aus der Scheide und reckte es in die Höhe. »Für die Hanse!«, brüllte er.

»Für die Hanse!«, donnerten tausende Männer wie aus einem Mund und griffen an.

Die Bogen- und Armbrustschützen belegten die Brustwehr mit einem tödlichen Hagel, während Kriegsknechte mit Sturmleitern gegen die Mauern vorrückten. Sie wurden ihrerseits beschossen. Dutzend fielen und blieben tot oder verletzt vor dem Ringwall liegen.

Auf den Wehrgängen drängten sich die Verteidiger. Dicht an dicht standen sie hinter den Zinnen, ihre Helme und Harnische gleißten im Sonnenlicht. Sie bewarfen die Angreifer mit Speeren und Steinen und versuchten, die Sturmleitern umzustoßen. Dies gelang ihnen manches Mal, sodass die Kriegsknechte, die daran hochkletterten, mehrere Klafter tief stürzten und sich die Knochen brachen.

Johann stand mit seiner Leibgarde außerhalb der Reichweite der feindlichen Bogenschützen und beobachtete das Kampfgeschehen. Er versuchte, nicht an die vielen hundert Männer zu denken, die heute ihr Leben verlieren würden – seinetwegen. Nein, sagte er sich. Es ist Waldemars Schuld. Er hat uns diesen Krieg aufgezwungen.

»Vorwärts!«, brüllte er, mehr um die eigenen Zweifel zu verscheuchen als um die Soldaten anzutreiben.

Es war ein langwieriges und verlustreiches Gefecht. Aufgrund der großen Zahl der Verteidiger und der erbitterten Gegenwehr, die sie leisteten, blieb keine Sturmleiter lange stehen. Nur wenige hansische Kriegsleute schafften es auf die Wehrgänge hinter der Brustwehr, und dort empfing sie obendrein eine erdrückende Übermacht, die mit Äxten, Schwertern und Lanzen auf sie eindrang. An mehreren Stellen des Ringwalls tobten heftige Kämpfe. Nach zwei Stunden hatten Johanns Streiter lediglich zwei kleinere Türme und den Mauerabschnitt dazwischen eingenommen. Wenn sie versuchten, in den Burghof vorzustoßen, wurden sie zurückgeschlagen.

»Sie brauchen Verstärkung. Edmund soll sich von der Südmauer zurückziehen und ihnen helfen«, sagte Johann zu einem Leibwächter, der sogleich loslief, um die Order zu überbringen.

Derweil hatte Bruns Söldnertruppe den Graben vor dem Torhaus mit Steinen und Sandsäcken zugeschüttet. Der Blutzoll, den die Schar dafür bezahlt hatte, war erheblich. Johann blickte immer wieder hinüber und schirmte die Augen gegen die blendende Sonne ab. Zu seiner Erleichterung war Brun wohlauf. Sein alter Freund wuselte zwischen den Männern umher, brüllte Befehle und packte mit an. Einmal riss er den Schild in die Höhe, um einen Stein abzuwehren, den die Soldaten auf dem Torhaus geworfen hatten.

Die Söldner zogen sich zurück und bemannten einen Widder, mit dem sie gegen die Zugbrücke vorrückten. Es hagelte Pfeile und Armbrustbolzen, die jedoch größtenteils im Dach des Rammwagens steckenblieben. Die Männer schwangen den hängenden Baumstamm, das schwere Rundholz schmetterte gegen das Burgtor. Zehnmal, zwanzigmal, dreißigmal übertönte das dröhnende Krachen den Kampflärm, doch die eisenverstärkten Balken gaben nicht nach.

Das Tor der Hölle könnte nicht fester sein, dachte Johann und kaute auf der Unterlippe.

Schließlich wurde der feindliche Beschuss so heftig, dass Brun und die Seinen sich zurückziehen mussten. Den nutzlosen Widder ließen sie einfach stehen.

Der Söldnerführer eilte zu Johann. In seinem Gesicht, dem welligen Haar klebten Schweiß und Staub; einzelne Blutspritzer sprenkelten den Brustharnisch. Seit Beginn des Angriffs focht er in vorderster Linie und wirkte dennoch nicht übermäßig erschöpft. Johann gestand ihm zu, dass er der zähere Mann von ihnen war.

»Beim heiligen Georg!«, knurrte Brun. »Eine Horde Riesen könnte die verdammte Zugbrücke nicht zerschmettern.«

Johann befahl einem Diener, Brun einen Becher Wein zu bringen. Der stürzte den mit Quellwasser verdünnten Rebensaft in wenigen Zügen hinunter und seufzte genießerisch.

»Die Dänen sind schlau«, sagte er. »Sie haben die Zugbrücke nicht ganz heraufgezogen, sondern etwas Spiel gelassen, sodass sie bei jedem Stoß zurückfedert. Das nimmt dem Sturmbock jegliche Wucht. Wir müssen sie sprengen.«

»Nimm dir alles Schwarzpulver, das du brauchst.«

»Meine Männer benötigen bessere Rüstungen. Die Dänen werden uns abschießen wie die Rebhühner, wenn sie uns mit dem Donnerkraut kommen sehen.«

Johann ließ seine Leibgardisten ausschwärmen und zwei dutzend Ritter, Hauptleute und reiche Lübecker einsammeln, die Plattenharnische, Eisenhüte mit breiten Krempen sowie Arm- und Beinschienen besaßen. Die Männer überließen ihre Rüstungen Bruns Söldnern, die daraufhin schwer gepanzert Pulverfässer zur Zugbrücke schleppten und unter dem Sturmbock deponierten. Die Verluste, die sie erlitten, waren dennoch schwer. Die Dänen, die freilich begriffen, was die Stunde geschlagen hatte, versammelten ihre besten Schützen auf dem Torhaus. Die meisten ihrer Pfeile und Bolzen prallten an den Rüstungen ab oder richteten kaum Schaden an, wenn sie die Panzerung durchschlugen, da ein jeder Söldner unter der Brünne ein Kettenhemd sowie ein gestepptes Wams trug. Gleichwohl fand manch ein Geschoss eine ungeschützte Stelle, woraufhin der Getroffene mitsamt dem Fass fiel.

Tote, Verletzte und Sterbende lagen auf dem Weg zum Torhaus. Johann sandte seine Leibgarde aus, um jene, die noch lebten, zum Lager zu bringen, wo Wundärzte ihr Möglichstes tun würden, sie zu retten. Einstweilen plazierten die Söldner die letzten beiden Fässer vor der Zugbrücke. Die Truppe war inzwischen auf die Hälfte der einstigen Größe geschrumpft, hatte aber nichts von ihrer Entschlossenheit eingebüßt. Brun hatte bei dem Anwerben der Männer ein gutes Händchen bewiesen, dachte Johann.

Brun höchstselbst war es, der rückwärtsgehend eine Pulverspur vom Rammwagen zur vordersten Linie der Sturmwände streute. Zwei Söldner schützten ihn mit Pavesen, rechteckigen Großschilden, vor dem heftigen Pfeilbeschuss. Hinter der Sturmwand reichte man Brun eine Fackel, er entzündete die Pulverspur, woraufhin eine funkensprühende Flamme auf das Torhaus zuraste. Die Verteidiger brachten sich hastig in Sicherheit, sodass kaum noch einer an der Brustwehr stand, als das tanzende Feuer unter dem Rammwagen verschwand.

Johann presste die Hände auf die Ohren. Trotzdem war der Donnerschlag derart laut, dass er fürchtete, sein Schädel werde platzen. Die Explosion zerriss das Torhaus förmlich. Eine Stichflamme, halb so hoch wie der Kaernan, schoss fauchend empor und spieh Trümmer in alle Richtung. Eine Staubwolke wallte auf und verhüllte für einen Moment die gesamte Westseite der Festung.

Stille schloss sich an. Johann fürchtete einen Herzschlag lang, der ohrenbetäubende Lärm habe ihn taub gemacht. Dann kehrten die Geräusche zurück, als die vor Schreck erstarrten Männer vor den Mauern und darauf fortsetzten, was sie vor dem Donnerschlag getan hatten: kämpfen, Feinde erschlagen, ihr Leben verteidigen.

Der Staub legte sich und gab den Blick frei auf die Bresche, die die Explosion geschaffen hatte. Wo eben noch das Torhaus gewesen war, klaffte ein gewaltiges Loch, in dem sich Schutt und gesplitterte Balken auftürmten. In den Staubschwaden, die durch den Burghof waberten, konnte Johann huschende Schemen ausmachen.

»Zum Angriff!«, schrie er.

Hornstöße erklangen. Er scharte jene Kriegsleute um sich, die sich noch nicht an den Kämpfen beteiligt hatten. Mit Brun und ihm an der Spitze rückte der mehrere hundert Mann starke Trupp gegen die Bresche vor und erklomm den Schutthügel. Die Dänen auf der anderen Seite – Männer mit staubigen Gesichtern und schreckgeweiteten Augen – bereiteten ihnen heißen Empfang. Auf dem Trümmerhaufen entbrannten Kämpfe Mann gegen Mann, als die Verteidiger mit dem Mut der Verzweiflung versuchten, die eindringende Streitmacht zurückzuwerfen.

Johann hielt Schwert und Schild in den Händen, doch er musste keinen einzigen Streich führen, keinen einzigen Hieb parieren. Seine Leibwächter, allesamt erfahrene Veteranen, umringten ihn und streckten jeden Angreifer nieder. Brun hatte es nicht so leicht. Wenige Schritte von Johann entfernt schwang er seine Klinge mit beiden Händen und trieb gleich zwei Dänen zurück.

Johann vermochte nicht zu sagen, wie lange er brauchte, um den Schuttberg zu überqueren. Vermutlich dauerte es weniger als eine halbe Stunde, die ihm jedoch wie eine Ewigkeit erschien. In winzigen Schritten ging es voran; seine Umgebung verschwamm zu einem blutroten Chaos aus Geschrei, klirrendem Stahl und wogenden Leibern. Bald führte sein Weg nicht mehr über Trümmerbrocken, sondern über die Körper der Gefallenen, die sich in der Bresche auftürmten wie hingeworfene Mehlsäcke.

Dann, endlich, führte er seine Mannen in den Burghof. Die geschlossene Wand der Verteidiger bröckelte und löste sich wenig später auf, als die Dänen ohne jede Ordnung zurückwichen.

»Helsingborg ist gefallen!«, brüllte jemand, und Johann vernahm einzelne Jubelschreie. Der Sieg war zweifellos nah, doch die Freude kam verfrüht.

»Sie ziehen sich in den Kaernan zurück!«, rief er Brun und den anderen Hauptleuten zu. »Schneidet ihnen den Weg ab, bevor sie sich verschanzen können.«

Der Zugang zum Kaernan lag nicht ebenerdig; die schmale Pforte war über eine Stiege zu erreichen, die man von innen heraufziehen konnte. Vor der Holztreppe erblickte Johann erstmals den Kommandanten der Festung. Es war ein kleiner, stämmiger Däne mit wildem blonden Haar, das mit dem Vollbart verschmolz. Sein mit goldenen Verzierungen versehener Harnisch sah reichlich ramponiert aus. Der Kommandant, zweifellos ein Edelmann, war sich offenbar nicht zu schade, an der Seite seiner Krieger in vorderster Front zu fechten. Eben schwenkte er das Schwert und scharte die zurückweichenden Dänen um sich. Ein kluger Zug. Statt kopflos zu fliehen, formten die Verteidiger Helsingborgs einen dichten Wall vor dem Kaernan, sodass sie sich nach und nach in den Turm zurückziehen und zugleich den einzigen Zugang gegen den hansischen Vorstoß verteidigen konnten.

Das Gefecht, das im Burghof entbrannte, war ein grausiges Gemetzel auf engstem Raum. Johann wich auf den Schutthügel zurück, um die Übersicht zu behalten. Es war vergebens. Dort, wo die beiden Haufen aufeinandertrafen, drängten sich die Männer derart dicht, dass man Freund und Feind nicht unterscheiden konnte. Die Leiber verkeilten sich ineinander; manch ein Krieger konnte kaum noch die Waffe schwingen. Fäuste und kurze Messer kamen zum Einsatz. Man versuchte, seinen Gegner mit bloßen Händen zu erwürgen oder ihn umzustoßen. Denn wer fiel, wurde regelrecht in den Boden getrampelt. Das Kreischen der Sterbenden war nicht so laut wie die Explosion, aber um ein Vielfaches schrecklicher. Johann erblickte einen Waffenknecht mit aufgeschlitztem Bauch, der sich aus dem Gedränge löste und ihm entgegentaumelte. Der Mann presste beide Hände auf die herausquellenden Gedärme und starrte Johann flehend an, ehe er zusammenbrach.

Die Deutschen waren den Dänen zahlenmäßig überlegen, konnten diesen Vorteil wegen der Enge jedoch nicht ausnutzen. Helsingborgs Verteidiger bildeten einen unerschütterlichen Wall vor dem Kaernan, der den Hof auf der gesamten Breite abriegelte, sodass sich immer mehr Männer in den Turm zurückziehen konnten. Zunächst die Verwundeten, alsbald aber auch Gesunde. Bogenschützen erschienen an den Zinnen, schossen Pfeile in die Masse der Angreifer und mussten nicht einmal zielen, um zu treffen.

Johann konnte spüren, dass die Moral der Truppe wankte. Die Männer, die den tödlichen Geschossen hilflos ausgeliefert waren, schauten sich bereits hektisch nach Fluchtwegen um. Unruhe kam in die Reihen, der Angriff verlor an Kraft. Wenn die Dänen erst im Kaernan sind, haben wir verloren, durchfuhr es ihn. In dem Turm können sie Monate ausharren. Er bezweifelte, dass ihr restliches Schießpulver ausreichen würde, die massiven Mauern zu sprengen.

Seine Gedanken rasten. Auf den Wehrgängen wurde nach wie vor erbittert gekämpft. Der Hauptteil des Heeres versuchte noch immer, den Ringwall zu erstürmen, um auch im Süden, Norden und Osten in die Burg einzudringen. Er beschloss, einen Teil der Männer vom Kaernan abzuziehen. Sie standen ohnehin zu weit hinten, um gegen die Dänen kämpfen zu können, und gaben lediglich Zielscheiben für die feindlichen Schützen ab. Wenn sie aber über die Sturmleitern woanders in die Festung gelangten, könnte Johann dem zähen dänischen Pulk im Burghof in die Flanke fallen und dessen Widerstand rasch brechen.

Er wollte gerade den entsprechenden Befehl geben, als ein Leibwächter ihn auf eine Gestalt aufmerksam machte, die vom Heerlager angerannt kam.

»Herr!«, schrie sie. »Herr Wittenborg!«

Aus den Staubschwaden vor dem Torhaus schoss ein Bursche von allenfalls vierzehn Jahren. Ein Schiffsjunge, erkannte Johann. Der Knabe erklomm den Trümmerberg auf Händen und Füßen und richtete sich zitternd und keuchend auf. Blut rann aus einer Schnittwunde an der Stirn.

»Was willst du?«, fragte Johann ungeduldig.

»Die Dänen, Herr. Sie sind im Hafen!«

»Was?«

»Sie kamen wie aus dem Nichts. Plötzlich waren sie da und fielen über unsere Schiffe her. Die Wachmannschaft wurde gefangengenommen. Ich bin der Einzige, der entkommen konnte.«

Johann starrte den Burschen an und hörte kaum noch den Kampflärm, der an seine Ohren drang. »Was ist mit den Bürgern und Ratsherren, die auf den Schiffen geblieben sind?«

Der Knabe zuckte nur mit den Schultern.

Johanns Stimme überschlug sich, als er mehrere Hauptleute zu sich rief. Er scharte jene Krieger um sich, die er vom Kaernan abziehen wollte, und eilte an der Spitze einer zweihundert Mann starken Truppe durch das Lager.

Die hansischen Koggen und leichten Segler, insgesamt zweiundfünfzig an der Zahl, lagen in der Bucht unter Helsingborg. Johann blieb auf dem Sandstrand stehen und betrachtete stumm die dänischen Kriegsschiffe, die sich unter seine Flotte gemischt hatten wie Wölfe unter eine Schafherde. Es wimmelte von feindlichen Soldaten. Zu hunderten bevölkerten sie die Decks der eroberten Wasserfahrzeuge.

Auch auf der Georg von Lübeck standen sie. Soeben rissen sie den rotweißen hansischen Wimpel herunter und hissten die dänische Flagge.

Johann war, als hätte man ihm einen Dolch in den Bauch gestoßen. Jähe Übelkeit stieg ihm die Kehle hinauf. Sein Schädel wurde heiß und fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen vor Scham, Wut und Verzweiflung. Wie ein Fieberkranker taumelte er einen Schritt zur Seite, sodass ein Leibwächter ihn stützen musste.

»Was sollen wir tun, Herr Wittenborg?«, hörte er einen Hauptmann fragen.

Johann versuchte, Worte zu formen. Zunge und Gaumen gehorchten ihm nicht mehr. Sein ganzer Mund war ausgetrocknet, als hätte er seit zwei Tagen nichts getrunken.

Von der Georg von Lübeck löste sich ein Ruderboot. Zwanzig Krieger bedienten kraftvoll die Riemen, sodass es wenig später den Strand erreichte. Ein Mann von rund vierzig Jahren stieg aus und ging Johann ohne Begleitung entgegen, als wäre auch der Bürgermeister von Lübeck allein. Die zweihundert Kämpfer, die die Waffen gezogen hatten und ihn feindselig anstarrten, beeindruckten ihn nicht. Vier Schritte vor Johann blieb der Mann stehen. Er war gutaussehend und wirkte keineswegs wie der grausame Schlächter, der er war. Ein vornehm gestutzter Bart an Kinn und Lippen zierte die markanten Züge. Eine prächtige Rüstung schützte den hochgewachsenen, athletischen Leib.

»Johann«, grüßte Waldemar Atterdag mit angenehmer Stimme. »Bitte sei so freundlich und sag deinen Mannen, dass sie die Waffen niederlegen sollen, auf dass wir bei einem Kelch Wein die Kapitulation der Hanse verhandeln können.«

ENDE